Intimität ist häufig mit viel Druck verbunden. Um da herauszukommen, kann Sensate Focus eingesetzt werden, eine der führenden Methoden in der Sexualtherapie, die Berührungen, Verbundenheit und Vertrautheit wieder in den Fokus der Partnerschaft rückt. In diesem Artikel zeigt Ihnen unsere Lieblingssexualtherapeutin
Louise Paitel
, wie mit diesem schrittweisen Ansatz Leistungsdruck abgebaut werden kann.
Sensate Focus ist eine Methode mit einer Reihe von Übungen, bei denen es um Berührungen und die Konzentration auf das Empfinden geht und die von William Masters und Virginia Johnson im Rahmen ihrer bahnbrechenden Forschungen zur menschlichen Sexualität entwickelt wurden (Masters & Johnson, 1970). Die schrittweise Methode wird zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen und zur Wiederherstellung der Intimität in der Partnerschaft eingesetzt.
Das zentrale Ziel der Methode besteht darin, die Aufmerksamkeit vom „Ergebnis” (Erektion, Lubrikation, Orgasmus, Penetration ...) auf die unmittelbare Sinneserfahrung der Berührung, der Entspannung und der Nähe in der Paarbeziehung zu lenken (Masters & Johnson, 1970; Weiner & Avery-Clark, 2016). Diese Fokussierung auf das Empfinden ermöglicht es, das so genannte Spectatoring (also das Gefühl, sich selbst beim Akt zu beobachten und zu bewerten) zu verringern und sexuelle Reaktionen spontaner entstehen zu lassen (Brotto & Heiman, 2007; Weiner & Avery-Clark, 2016).
Warum es sich lohnt, Sensate Focus auszuprobieren
Berührungen, körperliche Nähe im Alltag, Sinnlichkeit und Sexualität sind wesentliche Elemente in einer Partnerschaft. Zu Beginn einer Beziehung sind Paare oft „unzertrennlich”. Sie berühren und
küssen sich häufig
, geben sich gegenseitig Vorrang vor allem anderen, doch mit der Zeit und den Belastungen des Alltags kommt es zu einer körperlichen Entfremdung. Das ist ganz normal, aber es ist wichtig zu lernen, wie man die Nähe und das Verlangen nach Berührungen aufrechterhält. Durch regelmäßigen Körperkontakt entstehen Verbundenheit, Intimität und Verlangen, sei es emotionaler oder sexueller Natur.
Sexualität ist etwas Natürliches, aber sie muss erlernt und im Laufe des Lebens immer wieder neu gelernt werden. Dieser Lernprozess erfordert Sicherheit, Zeit, günstige Bedingungen sowie nonverbale und verbale Kommunikation. Sensate Focus versucht, all diese Bedingungen wiederherzustellen, damit der Lernprozess auf natürliche Weise wieder stattfinden kann. Mit Sensate Focus lassen sich die ersten Schritte der Selbstfindung und der Erkundung des Gegenübers neu gehen, um die Art und Weise, wie wir berühren, entdecken und kommunizieren, neu zu lernen.
"Sensate Focus ist eine der am häufigsten angebotenen Methoden in der Sexualtherapie. Sie wird bei sexuellen Schwierigkeiten oder Funktionsstörungen wirksam eingesetzt und ermöglicht es, ohne Druck ganz von vorne anzufangen. Mithilfe eines präzisen und schrittweisen Ansatzes können sich die Partner*innen wieder auf das konzentrieren, was sie einander geben können, ohne dabei Ziele wie Lust, Orgasmus oder Leistung anzustreben." - Louise PAITEL, Psychologin, Sexualwissenschaftlerin und Forscherin an der Universität Côte d’Azur in Nizza (Frankreich). -
So funktioniert die Methode
Die Übungen in Form von Berührungen oder sanften Massagen werden zu Hause durchgeführt, immer abwechselnd in einer ruhigen und bekannten Umgebung. Empfohlen wird, über einen Zeitraum von mehreren Wochen bis zu einigen Monaten zwei- bis dreimal pro Woche Sitzungen von etwa 20 bis 60 Minuten Dauer durchzuführen - je nach Rhythmus des Paares (Avery-Clark & Weiner, 2017).
Eine grundlegende Regel ist die Enthaltsamkeit von Geschlechtsverkehr: Auch wenn das Paar nackt ist, sich berührt und Lust empfinden kann, ist das Ziel weder Lust, noch Penetration oder Orgasmus. Die Methode legt viel Wert auf die bewusste Verpflichtung aller Beteiligten, diese Regel einzuhalten, ohne die eine Ausrichtung auf ein direktes Ergebnis aufkommen könnte. Das Konzentrieren auf die eigene Sinneserfahrung und das Loslassen jeglicher Vorstellung von individueller oder gemeinsamer Leistung sind notwendig, um sich der Freude an der einfachen Berührung hinzugeben.
Das Ziel von Sensate Focus ist es, Vertrauen (in sich selbst und in den anderen) wieder aufzubauen und Intimität wiederzufinden – was letztendlich die Fähigkeit erhöht, Lust zu geben und zu empfangen. Paare, die diese Übungen regelmäßig praktizieren, stellen fest, wie Hemmungen und Ängste in Bezug auf Intimität nach und nach verschwinden. Sensate Focus bietet uns einen räumlichen und zeitlichen Rahmen, um unser Wissen über den Körper und die Wünsche von Partnerin bzw. Partner, die sich oft im Laufe der Zeit verändern, auf den neuesten Stand zu bringen.
Die verschiedenen Phasen von Sensate Focus
Phase 1 : Streicheln ohne sexuelle Berührung
Das Hauptziel besteht darin, eine körperliche Beziehung wiederherzustellen, die frei von Leistungsdruck und Sexualisierung ist (Avery-Clark & Weiner, 2017). Alle Beteiligten erkunden langsam und bewusst den Körper des anderen, wobei jede genitale oder erogene Stimulation ausgeschlossen ist. Diese Phase reduziert die sexuelle Hypervigilanz und ermöglicht es, das Körperbewusstsein zu steigern (Seal & Meston, 2018). In dieser Phase sind alle sexuellen Aktivitäten verboten, um Intimität und Nähe wiederherzustellen, ohne dass der Druck entsteht, Sex zu haben.
So können Paare, die aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse Schwierigkeiten in Bezug auf Erregung, Lust und Befriedigung haben, ihre Differenzen beiseite legen, um sich auf den einfachen körperlichen Austausch zu konzentrieren. Ebenso können Paare, die unter sexuellen Funktionsstörungen (Schmerzen, Erektionsstörungen, Vaginismus ...) leiden, ihren Frust abbauen und gemeinsame körperliche Momente erleben, in denen Sexualität keine Rolle spielt.
Phase 2: Erweiterte Berührungen
In dieser Phase wird die erogene und genitale Stimulation wieder eingeführt, jedoch ohne dabei das Ziel der sexuellen Erregung oder des Orgasmus anzustreben. Es geht vielmehr darum, die körperliche Kommunikation, die Berührungstoleranz und das Wissen über sensorische Präferenzen zu verbessern (Healthline, 2022). Abwechselnd führt die eine die jeweils andere Person mit der Hand, um den gewünschten Rhythmus und Druck und die bevorzugten Körperstellen anzuzeigen. Dies ermöglicht das Erlernen oder Wiedererlernen der Sinnlichkeit: berühren und berührt werden.
Phase 3: Gegenseitige Berührungen
Die dritte Phase, in der gegenseitige Berührungen eingeführt werden, kann je nach Wunsch des Paares hinzugefügt werden. Das Paar experimentiert mit der
gegenseitigen Masturbation
, indem sie über den bevorzugten Rhythmus und die bevorzugte Intensität sowie über empfindliche Körperstellen kommunizieren, wobei sie sich weiterhin auf das Empfinden und die Atmung konzentrieren (Avery-Clark & Weiner, 2017). Diese Phase zielt darauf ab, die Abstimmung und das Vertrauen in der Beziehung wiederherzustellen (Seal & Meston, 2018).
Phase 4: Schrittweiser Wiedereinstieg in den Geschlechtsverkehr
Wenn Entspannung, Kommunikation und das nicht-sexuelle und sexuelle körperliche Vergnügen wieder zur Gewohnheit geworden sind, kann schrittweise zur Penetration übergegangen werden (Stanford Medicine, 2023). Bei Schmerzen, Ängsten oder Spannungen wird empfohlen, zu den vorherigen Phasen zurückzukehren (Tajik et al., 2022).
Wie man in der Sinneserfahrung bleiben kann
Das Ziel von Sensate Focus ist es, zu lernen, auf das Empfinden zu achten, sowohl beim Empfangen als auch beim Geben von Berührungen, die Wärme, Textur, Unebenheiten der Haut, Formen und Konturen zu spüren, als würde man diesen Körper zum ersten Mal entdecken. Es geht darum, die Intimität über die Sinne zu erkunden (streicheln, umarmen, die Haut küssen, dem Atem lauschen, den Geruch wahrnehmen ...), ohne in Sexualisierung zu verfallen.
Werden Berührungen als unangenehm oder schmerzhaft wahrgenommen, wird die Person, die die Massage erhält, ermutigt, die Hand von Partnerin oder Partner sanft zu einer anderen Körperstelle zu führen. Diese nonverbale Kommunikation stärkt das Gefühl der Sicherheit, der Vertrautheit und des Einvernehmens. Hinterher kann sich das Paar in einem Gespräch darüber austauschen, was angenehm, schwierig oder vielleicht auch überraschend war, um das Vorgehen schrittweise anzupassen.
Umgang mit Ablenkung und Erregung
Es ist ganz normal, sich abgelenkt zu fühlen oder Schwierigkeiten zu haben, sich während der Übungen auf die Empfindungen einzulassen. In diesem Fall empfiehlt es sich, sich wieder auf die Atmung zu konzentrieren. Dazu kann man zum Beispiel das Ein- und Ausatmen beobachten oder Methoden aus der Achtsamkeitspraxis verwenden (z. B. seine Gedanken beobachten, ohne sich von ihnen mitreißen zu lassen, die Aufmerksamkeit sanft auf die eigenen Empfindungen zurückbringen, so wie man einen Scheinwerfer umlenken würde ...).
Wenn hingegen die Empfindungen und die Erregung zu intensiv werden, hilft es, sich an die Regeln der Methode zu erinnern: fühlen, ohne ein unmittelbares sexuelles Ziel zu verfolgen. Das Ziel der Übung besteht in erster Linie darin, sich wieder auf den anderen einzulassen, den Leistungsdruck zu verringern, sich von Automatismen zu lösen und zu lernen, im Hier und Jetzt zu sein. Langsames Atmen, bei dem man zählt, wie viele Sekunden man einatmet und wie viele Sekunden man ausatmet, und die Konzentration auf einfache Empfindungen (Druck, Wärme, Berührung) können die Erregung wieder senken. Wenn jedoch die sexuelle Spannung zu stark wird, wird empfohlen, nach bzw. außerhalb der Sitzung zu masturbieren, damit die Regeln der Methode eingehalten werden können.
Wie Sensate Focus uns helfen kann
Abbau von Leistungsdruck
Sensate Focus verringert den Druck, beim Sex „erfolgreich“ zu sein, insbesondere bei Erektions-, Orgasmus- oder Erregungsstörungen, indem das Leistungsziel außen vor gelassen wird (Masters & Johnson, 1970; Avery-Clark & Weiner, 2017).
Steigerung des Körperbewusstseins (Interozeption)
Eine gesteigerte Körperwahrnehmung geht mit einer allgemeinen Verbesserung der weiblichen Sexualfunktion einher (Seal & Meston, 2018). Sensate Focus fördert diese Wahrnehmung, indem es den Fokus auf das Empfinden legt. Der Druck, „es richtig machen zu müssen” wird somit durch eine einfache sensorische Neugier ersetzt.
Verbesserung der Kommunikation
Die Methode gibt einen Rahmen für nonverbale und verbale Kommunikation vor, der in schwierigen Beziehungen unerlässlich ist (Huang et al., 2024). Der Austausch über Empfindungen verbessert die Koordination, Empathie und emotionale Nähe. Er ermöglicht auch ein besseres Verständnis dafür, was die andere Person mag. Das geht über das hinaus, was zu Beginn der Beziehung ohne effektive Kommunikation gelernt wurde. Außerdem können sich Vorlieben und Praktiken im Laufe der Zeit ändern. Sensate Focus ermöglicht es, die Vorlieben von Partnerin oder Partner neu zu entdecken.
Sanfte Desensibilisierung
Sensate Focus wirkt wie eine schrittweise Gewöhnung an körperliche Empfindungen und ist hilfreich, um die Angst vor sexuellen Aktivitäten oder Penetration zu verringern (Jindal & Jindal, 2010; Tajik et al., 2022). Bei Schmerzen und/oder Vaginismus sorgen Langsamkeit und Kommunikation für Ruhe und Orientierung, was es ermöglicht, sich nach und nach geeignete sexuelle Praktiken anzueignen und diese an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.
In welchen Situationen Sensate Focus eingesetzt werden kann
Bei Frauen, die unter einer sexuellen Luststörung oder unter Erregungsstörungen leiden, geht eine Verbesserung des Körperbewusstseins und der Kommunikation mit einer höheren sexuellen Zufriedenheit einher (Seal & Meston, 2018). Ebenso verbessert Sensate Focus in Kombination mit Entspannungsübungen und/oder der Verwendung von Dilatatoren deutlich den Vaginismus (Jindal & Jindal, 2010). Bei Endometriose zeigte eine Studie eine signifikante Verbesserung der Sexualfunktion und eine Verringerung der Schmerzen nach 8 Wochen regelmäßiger Praxis (Tajik et al., 2022).
Bei Männern führt das Wegfallen des Leistungsdrucks oft zu einer Verbesserung von Erektionsstörungen (Masters & Johnson, 1970; Huang et al., 2024). Außerdem verbessert die verlangsamte Herangehensweise die Zeitspanne, in der die Empfindungen vor der Ejakulation wahrgenommen werden können (Porto & Giuliano, 2013). Schließlich wird Sensate Focus eingesetzt, um die emotionale Bindung in der Paarbeziehung wiederherzustellen, wenn es dort Schwierigkeiten mit Spontaneität oder sexuellem Verlangen gibt (Avery-Clark & Weiner, 2017).
Besondere Vorsichtsmaßnahmen
Selbst sanfte Berührungen können Erinnerungen an traumatische Erlebnisse wachrufen. In diesem Fall sollte Sensate Focus parallel zu einer spezialisierten psychotherapeutischen Begleitung angewendet werden (Seal & Meston, 2018). Liegen Erkrankungen oder chronische Schmerzen vor, ist es wichtig, die körperlichen oder sexuellen Schmerzen zu untersuchen, bevor mit den ersten Übungen begonnen wird (Tajik et al., 2022).
In manchen Paarbeziehungen ist außerdem erforderlich, vorher gemeinsam an einer ausreichenden Vertrauensbasis zu arbeiten. Denn eine offene Kommunikation, ein einvernehmliches Vorgehen und das Respektieren der Grenzen aller Beteiligten sind von grundlegender Bedeutung. Ohne diese Voraussetzungen kann die Methode nämlich Ängste, Frust oder das Gefühl des Versagens verstärken.
Fazit
Sensate Focus ist nach wie vor eine der wirksamsten und am häufigsten verwendeten Methoden in der Sexualtherapie und kann bei Problemen wie Vaginismus, Dyspareunie, vorzeitiger Ejakulation, hypoaktivem Verlangen, Erregungsstörungen oder Erektionsstörungen (wenn diese psychogenen Ursprungs sind) helfen. Die Übungen sind einfach, anpassungsfähig und leicht umzusetzen. Es wäre also schade, es nicht wenigstens auszuprobieren!
Dieser Artikel wurde von
Louise PAITEL
verfasst, einer Psychologin und Sexualwissenschaftlerin und Forscherin an der Universität Côte d'Azur in Nizza. Sie unterstützt LOVE AND VIBES bei der Redaktion mit ihrem wissenschaftlichen und wohlwollenden Ansatz der Sexualität.
Literaturangaben
- Avery-Clark, C., & Weiner, L. (2017). Sensate focus in sex therapy. Routledge.
- Brotto, L. A., & Heiman, J. R. (2007). Mindfulness in sex therapy: Applications for women with sexual difficulties. Journal of Sex & Marital Therapy, 33(1), 3–11.
- Healthline. (2022). What is sensate focus? Exercises, benefits, and tips. Healthline Media.
- Huang, S., et al. (2024). Effectiveness of online sensate focus exercises in enhancing sexual function and intimacy among heterosexual couples. Journal of Sex & Marital Therapy, 50, 1–15.
- Jindal, U. N., & Jindal, S. (2010). Use by gynecologists of a modified sensate focus technique to treat vaginismus causing infertility. Fertility and Sterility, 94(6), 2393–2395.
- Masters, W. H., & Johnson, V. E. (1970). Human sexual inadequacy. Little, Brown & Co.
- Porto, R., & Giuliano, F. (2013). L’éjaculation prématurée. Progrès en Urologie, 23(9), 647–656.
- Seal, B. N., & Meston, C. M. (2018). The impact of body awareness on women’s sexual health: A comprehensive review. Sexual Medicine Reviews, 6(3), 353–363.
- Stanford Medicine. (2023). Sensate focus exercises for couples. Stanford Health Care.
- Tajik, M., Shahali, S., & Shadjoo, K. (2022). The co-effect of sensate focus technique and sexual position changing on sexual function in women with endometriosis. Journal of Obstetrics and Gynaecology Research, 48, 1–9.
- Weiner, L., & Avery-Clark, C. (2016). The traditional Masters and Johnson behavioral approach to sex therapy: Sensate Focus as core. In Y. M. Binik & K. S. K. Hall (Eds.), Principles and practice of sex therapy (5th ed.). Guilford Press.