Viele trauen sich nicht, die Frage zu stellen: Haben Menschen mit Beeinträchtigung ein Sexleben? Die Antwort ist einfach: Natürlich! Aber die Gesellschaft tut sich schwer damit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigung ist eher unsichtbar, wird als störend empfunden und ist nach wie vor mit Tabus behaftet. Dabei spüren alle Menschen sexuelles Verlangen und haben eine Sehnsucht nach intimen Berührungen und Nähe zu anderen Menschen.
Sexualität ist kein Privileg, das den sogenannten „gesunden“ Menschen vorbehalten ist und die sexuelle Lust ein Recht, eine Freiheit und ein Ausdruck unseres Selbst: unabhängig von den körperlichen oder geistigen Fähigkeiten.
Handicap und Sex: eine Frage der Inklusion
Beim Thema Sexualität wird oft in Normen gedacht, bei denen es um Leistung, Agilität und Jugendlichkeit geht. Alles, was aus diesem normierten Rahmen herausfällt, stört. Dabei ist eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung kein Hinderungsgrund, die eigene Sexualität auszuleben - es geht vielmehr darum, einen eigenen Weg zu finden, sie mit den eigenen Wünschen und Vorlieben auszuleben. Dieser Weg muss vielleicht langsamer gegangen werden, mit mehr Absprachen, ein paar Tricks und mehr Kreativität. Dahinter steckt aber immer derselbe Wunsch, nämlich sich lebendig und begehrenswert zu fühlen und dabei mit sich selbst und anderen eine Bindung aufzubauen.
Sex von Menschen mit Beeinträchtigung: immer noch ein Tabu
Lange Zeit hat die Gesellschaft Menschen mit Beeinträchtigung als asexuelle Wesen betrachtet. Diese falsche, in den Köpfen tief verwurzelte Sichtweise hat dazu beigetragen, ihnen den Zugang zu ihrem eigenen Körper, ihrer Sinnlichkeit und ihrer Lust zu verwehren. Infantilisierung, Leugnung der sexuellen Wünsche oder Marginalisierung in den Medien: Die Hindernisse sind zahlreich und sie finden sich nicht nur auf der körperlichen, sondern auch auf der kulturellen und psychologischen Ebene.
Dabei verschwindet die Lust auf Sex nicht mit einer Krankheit, einer Lähmung oder einer chronischen Erkrankung. Sie passt sich vielmehr an und wandelt sich, verschwindet aber nie komplett.
Verändert eine Behinderung die Sexualität?
Viele Menschen mit Beeinträchtigung leben ihre Sexualität anders aus als Menschen ohne Beeinträchtigung. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht vorhanden ist. Sie wird aber vielleicht langsamer, kreativer und aufmerksamer gelebt. Mit mehr Kommunikation, einem anderen Verständnis vom eigenen Körper und mit Lust in all ihren Formen - nicht nur mit Penetrationssex.
Manche Menschen müssen ihren Körper nach einem Unfall oder einer Krankheit neu entdecken, andere müssen ihre Sexpraktiken an eine eingeschränkte Beweglichkeit, eine Überempfindlichkeit oder einen fehlenden Muskeltonus anpassen. Die Sexualität wird dann zu einer Art Testlabor, in dem Leistungsstandards keine Rolle mehr spielen.
Sexualbegleitung: zwischen Bedarf und Kontroverse
In einigen Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder den Niederlanden ist die Sexualbegleitung oder Sexualassistenz als legitime Dienstleistung anerkannt. Dabei handelt es sich nicht um Prostitution, sondern um eine Sexualbegleitung, die unter Anleitung und mit Respekt durchgeführt wird. Menschen mit Beeinträchtigung soll so der Zugang zu körperlichen und emotionalen sexuellen Erfahrungen ermöglicht werden.
In anderen Ländern wie Frankreich zum Beispiel ist das Thema umstritten. Es gibt rechtliche Unklarheiten, die selbst innerhalb der einschlägigen Verbände zu Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen führen. Dabei ist eine Sexualbegleitung für manche Menschen, die andernfalls gar keine körperliche Nähe und keine sexuellen Erfahrungen erleben können, ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens.
Menschen mit Behinderung in Partnerschaft und Beziehung
In einer Partnerschaft, in der einer der beiden Partner eine Beeinträchtigung hat, beruht die Sexualität auf einer grundlegenden Säule: der Kommunikation. Es geht nicht darum, dem Partner oder der Partner aus Mitleid Lust und Freude zu bereiten, sondern darum, gemeinsam ein zärtliches, angepasstes und aufrichtiges Liebesleben aufzubauen.
Dazu gehört es, die Wünsche und Grenzen des anderen zu berücksichtigen, gemeinsam neue Praktiken auszuprobieren und unterschiedliche Rhythmen zu akzeptieren. Manche Paare entscheiden sich dafür, Accessoires oder Hilfsmittel zu verwenden, die Sexstellungen anzupassen oder andere Formen der Stimulation einzuführen, um die Nähe und Intimität in der Beziehung aufrechtzuerhalten.
Sexspielzeug und Barrierefreiheit: Hilfsmittel, um die eigene Lust neu zu entdecken
Im Bereich Sex für Menschen mit Beeinträchtigung kann Sexspielzeug eine entscheidende Rolle spielen. Sexspielzeug kann ermöglichen:
- bestimmte körperliche Beeinträchtigungen zu umgehen
- eine neue sexuelle Selbstbestimmung zu gewinnen
- verloren gegangene Lustgefühle wiederzufinden
- den eigenen Körper ohne Druck von außen zu entdecken
Dabei ist es natürlich wichtig, dass das verwendete Sexspielzeug auf die besonderen Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer abgestimmt ist.
In Frage kommen könnten zum Beispiel folgende Produkte:
- Vibratoren mit langem Griff für Menschen mit eingeschränkter Beweglichkeit oder Menschen, die Schwierigkeiten beim Greifen haben
- Sextoy-Halterungen für eine Freihand-Nutzung
- Lagerungskissen für eine schmerzfreie Nutzung von Sexspielzeug
- Verstellbare Gurte zur Entlastung der Muskeln bei der Penetration
Innovative Lösungen: der Handy Lover
Der Handy Lover ist ein Hilfsmittel für Menschen mit Beeinträchtigung, die selbstbestimmt ihre Sexualität ausleben möchten. Er richtet sich an Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung, ältere Menschen und alle Menschen, die weder “normalen” Penetrationssex haben noch ein klassisches Sexspielzeug verwenden können.
Beim Handy Lover handelt es sich um einen leichten und stabilen Schaumstoffblock aus sehr dichtem Schaumstoff mit einem Schlitz in der Mitte, in den ein Dildo eingeführt werden kann. Der Block kann zwischen den Oberschenkeln, auf einem Bett, in einem Rollstuhl oder sogar auf dem Boden positioniert werden, so dass sich der Nutzer oder die Nutzerin nach Bedarf und körperlichen Fähigkeiten daran anlehnen oder darauf reiten kann.
Der Handy Lover wurde von dem Sexualwissenschaftler Rodolphe Brichet entwickelt und ist mehr als eine Art Sextoy. Es ist vielmehr eine konkrete Antwort auf eine große soziale Herausforderung, die in der Gesundheitspolitik noch zu wenig Beachtung findet.
Das Schweigen über das Thema Sexualität für Menschen mit Beeinträchtigung zu brechen, bedeutet, ein Zeichen zu setzen und anzuerkennen, dass alle gleichermaßen ein Recht auf Lust, Berührung und Verführung haben. Es bedeutet auch, die Isolation von Menschen mit Beeinträchtigung zu bekämpfen und sich für die Würde aller Menschen einzusetzen.
Hersteller wie @handieasy, Vereinigungen wie Lebenshilfe, oder Dokus wie Yes We Fuck! tragen dazu bei, dieses Ziel zu erreichen.
Denn solange wir nicht alle Lebensrealitäten in unseren Diskurs über Sex einbeziehen, wird unsere Vision von Lust unvollständig bleiben.